Formen und Verformungen in den Skulpturen von Jean-michel Fichot
VIER SKULPTURENGRUPPEN
Die Skulpturen von Jean-Michel Fichot (1959 geboren) kann
man in sechs Serien einordnen : DIE GRABNISCHEN (die
Serie began 1980), DIE FRAUENWELT (seit 1985), DIE
FLUCHTEN (seit 1989), DIE AFRIKASERIE (seit 1989), DIE
DIVEN (seit 1990), DIE ENTFÜHRUNGEN (seit 1991). Die
Grabnischen sind Fluchten (in verschiedenen Arten, mit ver-
schiedenen Materialien) von männlichen Köpfen, mit
weit geöffneten Mündern schreien.
DIE GRABNISCHEN
Sie kommen vom Schrei, dem Schmerz, dem Tod. Thanatos
regiert über den Grabnischen. Nach den meisten Wörter-
büchern ist eine Grabnische eine flache Aushebung in den
Mauern der Kirchen, in denen die Gräber aufgenommen
werden. In der Bretagne war Jean-Michel Fichot von diesen
Grabnischen fasziniert. Der Klang der Worte im Französi-
schen hat dabei ohne Zweifel mitgespielt, denn“enfeu“,
Grabnische, weckt auch den Gedanken an “feu“, das Feu-
er, das alles zu Asche verbrennt, “enfer“, die Hölle mit ihren
Verdammten, und “enjeu“, den Einsatz beim Spiel.
Die anderen fünf Werkgruppen beschäftigen sich mit dem
weiblichen Körper, seinen Drehungen, Verformungen, seinen
Verzerrungen. Manchmal erscheinen die Körper alleine,
manchmal tauchen weibliche Gruppen auf. Manchmal wird
eine weibliche Gestalt entführt – ekstatisch, vielleicht ver-
liebt – auf dem Rücken eines Tieres. Offensichtlich gehören
diese Werke ins Reich des Eros, zu den Lebenskräften, zur
weiblichen Lust.
SPANNUNGEN
Jede Skulptur von Jean-Michel Fichot (welcher Werkgruppe
sie auch angehört) ist mit Spannungen verbunden, lebt im
Wechselspiel gegensätzlicher Kräfte. Sie bewegt sich nie im
Feld der reinen Abbildung des täglichen Lebens, verweigert
aber auf der anderen Seite eine zu groBe Ferne zu diesem
Leben. Sie versteht sich weder “realistisch“ noch “abstrakt“,
oder will manchmal vielleicht beides zugleich sein, zerrissen
zwischen gegensätzlichen Vorstellungen; durch diese Zerris-
senheit ist sie umso anrührender…
Andererseits, selbst wenn der Künstler verformt, biegt, ver-
dreht, die Körper und die Köpfe in die Länge zieht, besteht
er doch darauf, daB sie erkennbar und begehrenswert blei-
ben…
Die Werke von Jean-Michel Fichot beinhalten noch andere
Begegnungsmöglichkeiten widersprüchlicher Wünsche. In
den Grabnischen, zum Beispiel, führen die Brutalität des
Themas und seine Gewalt (ausgedrückt in den schreienden
Gesichtern) den Bildhauer zur Verwendung oft kostbarer
Materialien ( Gold, Lack etc.), mit einer dadurch fremd-
artigen und fast perversen Verfeinerung.
DIE KUNSTVOLLEN SPIELE DER VERFORMUNG
In diesen Werken zeigen sich die kunstfertigen, die ernsthaf-
ten Spiele der Verformung: die gleichen, die der groBe
Kunsthistoriker Jurgis Baltrusaitis (1903-1988) in seinen Un-
tersuchungen der strukturellen Verformungen und das, was
er “das ornamental-stilistische in der romanischen Skulptur“
nennt, studiert hat. E r zeigt zum Beispiel, wie plastischeFor-
men aus dem Wechselspiel der Transformationen entstehen;
oder auch, wie ein menschlicher Körper im XI und XII Jahr-
hundert verlängert, abgerundet, verkantet, in vielen Weisen
verändert wird, bis er in den architektonischen Rahmen paBt,
für den er vorgesehen ist.
Wenn man die eigenartigen Verformungen betrachtet, die
Jean-Michel Fichot seinen weiblichen Körpern angedeihen
läBt, kann man auch an die Körperbilder denken, die der
Orgasmus (und die mystische Ekstase, so sagt man) im
Körper hervorruft. Sie erinnern auch an den Satz Paul
Valérys über die Zeichnungen von Ingres: “Der Kohlestift
Ingres sucht selbst bei der Darstellung des Monströsen
Anmut zu bewahren: Nie ist das Rückgrat geschmeidig und
lang genug, oder der Hals biegsam genug, und die Schen-
kel weich genug, und alle Kurven des Körpers verführerisch
genug, für den Blick, der sie mehr umfaBt und berührt, als
sie zu sehen “. Die Verformungen von Jean-Michel Fichot
sind sicherlich ganz anders als die von Ingres. Aber auch sie
erfinden auf ihre Weise neue Körper und gewähren unseren
Augen das Vergnügen, neu zu sehen.
Gilbert Lascault , 1993.